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Nicaraguareise vom 5. bis 15. November 2024
Stresstest für Mensch und Natur
Nicaragua riecht nach Mandarinen. Zumindest am Anfang. Denn eigentlich beginnt ein Besuch auf den Kaffeefincas der Bäuerinnen und Bauern von Tierra Nueva meistens damit, dass wir im Kreis stehen, ein bisschen plaudern und Mandarinen schälen, die wir gerade frisch von einem der Mandarinenbäume auf den Kaffeeparzellen gepflückt haben.
Aber dieses Jahr ist alles anders: Es gibt keine Mandarinen. Wo sich die Äste sonst vom Gewicht der prallen Früchte nach unten biegen, herrscht nahezu gähnende Leere. Juan und Esmeralda haben auch noch keine Erklärung dafür. Sie sind es natürlich gewohnt, dass die Ernte von Jahr zu Jahr variiert. Aber so etwas haben sie noch nie erlebt. Ein Schädling? Eine Pilzerkrankung? Oder der Mix aus heftiger Trockenheit und unerwartet starken und langen Regenfällen danach? Vermutlich der Mix aus allem.
Das Thema wird uns auf der Reise begleiten. Die Auswirkungen sind von Region zu Region und Pflanzenarzt zu Pflanzenart zwar unterschiedlich, doch eines beobachten die Bäuerinnen und Bauern überall in Nicaragua: Ihre Pflanzen stehen unter Stress und verlangen ihnen immer mehr Fingerspitzengefühl bei der täglichen Arbeit ab.
Viel Zeit, Energie und Geld fließt in die Bemühungen, für ein gutes Mikroklima auf den Parzellen zu sorgen. Der Schatten muss optimal reguliert werden, der Feuchtigkeitsgehalt des Bodens wird überwacht und ein gesunder Mix aus verschiedenen Kaffeevarietäten soll dafür sorgen, dass die Parzellen insgesamt weniger anfällig für Krankheiten werden.
Die sogenannten Agroforstsysteme, in denen die Bäuerinnen und Bauern ihren Kaffee anbauen, gelten als besonders nachhaltig. Sie bieten einen Lebensraum für viele verschiedene Tier- und Pflanzenarten – und verhindern Bodenerosion. Die Mitglieder der Kooperative Tierra Nueva sorgen zusammen mit den Agronomen für gute Ausgangsbedingungen, um auch in Zukunft qualitativ hochwertigen Kaffee ernten zu können.
Herausforderungen ohne Ende – und trotzdem optimistisch
Wir sitzen zum Mittagessen in großer Runde auf der Veranda von Juan und Esmeralda, um gemeinsame Pläne für die nahe Zukunft zu schmieden. An Herausforderungen mangelt es nicht: Die Lage in Nicaragua verschärft sich zunehmend, viele Kosten sind enorm gestiegen und der Mangel an Arbeitskräften macht den Produzentinnen und Produzenten zu schaffen. Tausende Menschen haben das Land verlassen – und fehlen nun nicht nur bei der Kaffeeernte.
In den nächsten Jahren möchten wir gemeinsam mit neuen Kaffeevarietäten experimentieren und gezielter die Qualitäten und Geschmacksprofile der einzelnen Ernte bewerten und vergleichen. Das Ziel ist es, die Kaffeemischungen zu optimieren und einzelne Parzellen zu identifizieren, deren Kaffee sich möglicherweise als sogenanntes Microlot an einzelne Spezialitätenröster in Europa vermarkten ließe.
Tierra Nueva ist insgesamt gut aufgestellt. Die Kooperative hat wirtschaftliche Schwierigkeiten vergangener Jahre hinter sich gelassen und arbeitet nun mit einem stabilen und gut ausgebildeten Team mit großem Einsatz daran, den Bio-Kaffee der rund 200 Mitglieder möglichst gut zu vermarkten. Der Großteil der Ernte wird nach Europa verschifft.
Meistens erfolgt der Transport per Containerschiff, doch für Café Chavalo landen jedes Jahr mehrere Tonnen im Frachtsegler Avontuur. Tierra Nueva ist damit derzeit eine von wenigen Kooperativen weltweit, deren Kaffee emissionsarm transportiert wird. „Uns gefällt die Idee, dass wir damit die Umwelt schützen. Denn das ist es, was wir auch in unserem Alltag tun: Wir arbeiten ökologisch, um die Natur nicht zu kontaminieren – und nun wird der Kaffee auch ohne Emissionen transportiert“, sagt Präsident Pascual Espinoza.
„Wir arbeiten ökologisch, um die Natur nicht zu kontaminieren – und nun wird der Kaffee auch ohne Emissionen transportiert.“
Pascual Espinoza
Café Chavalo und Tierra Nueva verbindet mittlerweile eine zehnjährige Partnerschaft. Einige Mitarbeiter und Bauern können sich noch daran erinnern, wie ich zum ersten Mal in Boaco auftauchte und mehr über ihre Arbeit erfahren wollte – ausgestattet mit rudimentären Spanischkenntnissen und einem zerfledderten Lilliput-Wörterbuch.
Mit dem Pick-up geht es weiter ins Hinterland. Der Toyota Land Cruiser bahnt sich seinen Weg durch Bäche und über Schotterpisten. Wir erreichen schließlich die Finca von Vidal Gutierres. Er ist seit mehr als 20 Jahren Mitglied der Kooperative und einer der Bauern, deren Ernte in der Kaffeepartie landet, die wir per Windkraft von Mittelamerika nach Europa transportieren.
Während Vidal uns eine seiner Kaffeeparzellen zeigt, erinnert er sich zurück: „Ich habe mit 50 Pfund Kaffee angefangen – das war meine erste Ernte.“ Inzwischen ernten seine Frau und er auf rund 11 Hektar mehr als 300 Zentner Kaffee pro Jahr. Normalerweise. Denn im vergangenen Jahr sorgte das Wetterphänomen El Niño dafür, dass es gerade einmal die Hälfte war.
Dieses Jahr waren die Wetterbedingungen auch nicht ideal, aber die Ernte dürfte trotzdem besser ausfallen. Anfang November tragen Vidals Kaffeesträucher bereits reichlich Früchte. Doch die Ernte wird später als üblich beginnen.
In der Verarbeitungsanlage der Kooperative, dem sogenannten Beneficio, ist bereits alles für den Erntebeginn vorbereitet. Aktuell herrscht auf den großen Betonflächen noch gähnende Leere. In Kürze werden hier tonnenweise Kaffeebohnen zum Trocknen liegen. Die tropische Sonne strahlt hier mit voller Kraft und treibt jeden Besucher schnell in den Schatten. Auch die Kaffeebohnen müssen hier regelmäßig gewendet werden, um gleichmäßig zu trocknen und keinen Sonnenstich zu kriegen.
Daysi Mendez leitet die Anlage. Sie arbeitet bereits seit etwa zehn Jahren bei Tierra Nueva und gehört zu den besten Kaffeeverkosterinnen Nicaraguas. Sie verkostet und bewertet mit ihren Kolleginnen und Kollegen die eintreffenden Kaffeechargen. Im Labor steht die Aromabox. Die unscheinbare Holzkiste enthält etwa 50 kleine Fläschchen mit unterschiedlichen Aromen. Damit schulen die Mitarbeiter ihre Sinne. Jedes Flakon trägt nur eine Nummer. Wir riechen daran und Daysi verrät mir treffsicher, was sich dahinter verbirgt.
Wenn der Kaffee ankommt, muss es schnell gehen
Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Wenn die Ernte richtig begonnen hat, werden es wieder lange Arbeitstage für Daysi und ihr Team. Wenn der Kaffee angeliefert wird, muss jede Partie registriert, gewogen und bewertet werden. Es sollte kein großer Rückstau entstehen, weil der Kaffee zeitnah zum Trocknen auf den Betonflächen verteilt werden muss. Bliebe er mit seinem hohen Feuchtigkeitsgehalt lange in den Transportsäcken, würde die Qualität leiden.
Das will niemand riskieren. Denn Geschäftsführer Marcos Duarte hat bereits einige Verträge für die neue Ernte unterschrieben. Es gibt ein stabiles Netz an Kunden, die Jahr für Jahr bei Tierra Nueva zu fairen Bedingungen einkaufen. In Zeiten schlechter Weltmarktpreise ist das überlebenswichtig. Doch auch jetzt, wo der Weltmarktpreis für Kaffee innerhalb eines Jahres um mehr als 70 Prozent gestiegen ist, profitieren die Kooperative sowie die Bäuerinnen und Bauern von den Zusatzprämien, die Café Chavalo und andere Akteure zahlen.
Unser Segel-Kaffee soll Mitte März im Bauch der Avontuur verstaut werden und seine Reise nach Europa antreten. Die letzten vertraglichen Details besprechen wir im Büro der Kooperative in Boaco. Für die Exportkoordinatorin Erlinda Sobalvarro ist der Seetransport im Segelschiff ebenso schön wie arbeitsintensiv. Denn die Weltwirtschaft ist auf Containerschiffe eingestellt – Stückguttransport in Frachtseglern wie der Avontuur ist eine Seltenheit. Der Name des Schiffs ist niederländisch und bedeutet Abenteuer. Erlinda scherzt: „Wenn es kein Abenteuer ist, ist es kein Segel-Kaffee.“ An den Spruch werden wir uns sicherlich in ein paar Monaten wieder erinnern, wenn die Verladung des Kaffees näherrückt.
„Wenn es kein Abenteuer ist, ist es kein Segel-Kaffee.“
Erlinda Sobalvarro